Natur und Magie

Die Kräfte der Magie

Die Welt der Naturvölker ist eine Welt der Magie. Ihr Glaubensbekenntnis ist die Überzeugung: „Im Anfang war die Kraft." Diese unsichtbare Kraft ist allgegenwärtig und allspürbar und ist für den Primitiven genau so gewiß wie die Härte des Steins und die Nässe des Wassers und wie der Äther in der modernen Physik.

Diese nur dem modernen Menschen übernatürlich erscheinende Kraft ist für die Naturvölker vollkommen real und greifbar und wird von ihnen mit vielen verschiedenen Namen bezeichnet. Sie ist das mana der Malayo-Polynesier, das orenda der Irokesen, das kuranita der Zentralaustralier, das wakan der Sioux und der manito der Algonkins. Das unablässige Bestreben des Primitiven ist daher darauf gerichtet, die Auswirkungen dieser Kraft zu erkennen, an ihr teilzuhaben und, wenn möglich, sie zu meistern. Denn in der Welt der Naturvölker gibt es keine Zufälle — jedes Ding und jede Erscheinung haben Ursachen und Verbundenheiten, die zu erkennen der primitive Mensch als seine Aufgabe ansieht.

In unserer Vorstellung ist der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung das Resultat unseres besonders auf unsere Erkenntnisse in den Naturwissenschaften begründeten logischen Denkens. In der Vorstellung der Naturvölker jedoch sind Ursache und Wirkung nicht auf das enge Gebiet der sichtbaren Welt beschränkt, sondern sind von den Kräften und Erscheinungen des Unsichtbaren bedingt. Dieses Unsichtbare aber ist ihnen natürlich und real, denn in ihrer Denkweise ist eben das „übernatürliche" eine konkrete Wirklichkeit. Was wir als ein Phänomen des Glaubens bezeichnen würden, ist für den Primitiven eine Offenbarung seines Wissens. So sind denn alle seine Gedanken und Handlungen darauf gerichtet, im Geiste dieser zauberischen Weltanschauung alle Dinge und Elemente, die die sichtbare mit der unsichtbaren Welt verbinden, zu erkennen und zu durchdringen. Die Bemühung, diese mystischen Kräfte zu beeinflussen und nutzbar zu machen, nennen wir Magie.

Der Glaube an die Kräfte der Magie ist nicht nur über die ganze Welt verbreitet, sondern stellt auch die älteste Form einer Lebens- und Religionsphilosophie dar. Er hat die Jahrtausende überlebt und ist selbst noch in unserem modernen Leben spürbar.

Für die Naturvölker besitzt jedes sichtbare oder unsichtbare Ding oder Wesen gewisse Zauberkräfte und magische Eigenschaften. Während wir wissen, daß gleiche Ursachen unter gleichen Umständen gleiche oder ähnliche Resultate hervorbringen, erkennt der Primitive die ewigen Gesetze der Natur nicht an. Aus diesem Grunde schreibt er gewissen Erscheinungen, die ohne sichtbaren Grund auftreten, wie etwa Krankheit, Tod, Erfolg, Mißerfolg, Regen, Sturm und dem Aufgehen der Sonne magische Ursachen zu, die das Verhalten aller Wesen und Dinge bestimmen.

Zu den ältesten Formen der Magie gehören jene, die sich auf die Nahrungsbeschaffung beziehen. Das dabei notwendige Zauberritual wird aber nicht von dem Individuum allein vollzogen, sondern etwa von der zur Jagd ausziehenden Gruppe, der Wirtschaftseinheit der ältesten „aneignenden" Stämme, die alle ihre magischen Kräfte in gemeinsamer Magie vereinen. Schon die Wandmalereien in den prähistorischen Höhlen zeigen, daß bereits während der Eiszeit derartige Zeremonien abgehalten wurden. Das Bild der Beute — Bär, Büffel oder Hirsch — war in der Vorstellung dieser Menschen gleichbedeutend mit dem Jagdtier selbst. Wurde das Bild mit dem Speer durchstochen, so war der Erfolg der kommenden Jagd bereits gesichert. Wir können dies noch heute bei den Australiern beobachten, bei denen Sandmalereien die Ockergemälde des prähistorischen Menschen ersetzen. Diese Sandgemälde werden feierlich mit Speeren durchstochen, um den Jagderfolg des nächsten Tages sicherzustellen. Ein ähnliches zauberisches Ergebnis kann erzielt werden, wenn das symbolische Ebenbild des Tieres durch symbolische Gesten ersetzt wird und das Zauberritual also nicht in der zeichnerischen Darstellung und „Tötung" des Tieres besteht, sondern in seiner pantomimischen Nachahmung.

Derartige realistische Zaubertänze sind, wie wir an anderer Stelle sahen, bei den Australiern und bei den nordamerikanischen Indianern üblich. Beiden Methoden verwandt ist die Sitte, durch den Medizinmann aus Gras, Stoff oder anderem Material ein Ebenbild des Tieres herstellen zu lassen, das in der Zauberhütte aufgehängt und mit Speer oder Pfeil „getötet" wird.

Ähnliche Zauberriten dienen dazu, die Hauptnahrungspflanzen eines Stammes zu schützen und ihre Vermehrung sicherzustellen. So wird etwa in Australien das Einsammeln von Früchten oder Knollen pantomimisch dargestellt. An Stelle der erwünschten Wurzel werden Steine symbolisch ausgegraben und in den Tragkorb gelegt.

Diese magischen Sitten haben sich sogar in unserer Welt noch heute erhalten, zum Beispiel in der Sitte des Maibaumes, dessen ursprüngliche Bedeutung sich jedoch im Laufe der Jahrtausende verwischt hat. In manchen ländlichen Gegenden Deutschlands wird noch heute zu Pfingsten eine junge Birke oder Tanne feierlich aus dem Walde herbeigebracht. Gelegentlich übernimmt ein junger Mann, der von Kopf zu Fuß mit Blättern und Blumen geschmückt ist, die Rolle des „Baumes". Bei diesen Feiern jedoch wird die „Zauberwirkung" der Zeremonie nicht mehr zugunsten einer oder weniger Pflanzen angewandt, sondern der Maibaum und seine Abarten sind zum Symbol alles Wachstums schlechthin geworden, und die alte, den Fruchtbarkeitsdämonen geweihte Ehrfurcht hat man vergessen.

Aber nicht nur Pflanzen und Tiere, sondern auch die großen Naturkräfte sind bei den Naturvölkern die Gegenstände religiös-magischer Feiern. Der Sonnenaufgang und das Kommen des Regens werden durch symbolische Aufführungen angeregt, die in dem Glauben wurzeln, daß eine Vernachlässigung der notwendigen Respektsbezeigungen das Aufhören ihrer segensreichen Wirkungen zur Folge haben würde. Die Sonne würde nicht mehr scheinen, der Regen ausbleiben, wenn die Menschen sie nicht durch nimmermüde Anstrengungen zur Ausführung ihrer „Pflichten" zwängen.

Zu den bedeutungsvollsten dieser Zauberriten gehören diejenigen, bei denen das Feuer als Kraftanreger der Sonne in Erscheinung tritt. Besonders zur Zeit des sterbenden Jahres, wenn die Wintersonnenwende bevorsteht, glaubt man an eine Ermüdung der Sonne und sucht ihre Kräfte durch das Anzünden zauberischer Scheiterhaufen neu zu beleben. Derartige Zeremonien sind oft von eindrucksvoller Schönheit. So wird etwa bei den Navahoindianern bei Nachtbeginn ein riesiger Scheiterhaufen angezündet und bis zur Zeit der Morgendämmerung brennend erhalten. Dabei erscheinen die Feiernden in festlich weißer Bemalung zu Ehren der Sonne, und ihr langes Haar fällt bis auf ihre Schultern herab. Diese Schauspieler werden „wandernde Sonnen" genannt.

Sie halten federgeschmückte Tanzstäbe in der Hand, tanzen in geschlossener Prozession um die Flammen herum und springen so nahe wie möglich an das Feuer heran. Dabei ahmen sie den Gang der Sonne nach und bewegen sich vom Osten zum Westen und zurück. Ohne vor der Hitze des glühenden Scheiterhaufens zurückzuschrecken, nähern sie sich ihm immer wieder, um die Federbälle, die die Spitzen ihrer Stäbe zieren, daran zu entzünden. Wenn dies gelungen und der kleine Ball verbrannt ist, wird sofort ein neuer Federring oder -ball aufgesteckt, der als Symbol der neugeborenen Sonne mit jubelnden Zurufen begrüßt wird. Den Höhepunkt der Zeremonie bildet die symbolische Nachahmung des Sonnenaufgangs, der durch das Erscheinen von sechzehn Männern eingeleitet wird, die ein Abbild der Sonne in einem Korbe tragen.

Unter Gesang und Tanz stellen alle sich um einen hohen Pfahl herum auf und treten plötzlich zurück, während das Abbild des Gestirns langsam an dem Pfahl hochgezogen wird, dort während einiger eindrucksvoller Minuten verweilt und dann langsam wieder herabsinkt und verschwindet. Die Feier endet mit dem Beginn der Morgendämmerung, wobei die weißbemalten Tänzer noch einmal erscheinen, um ein Stück Zedernrinde in der Glut anzuzünden, tanzend um seinen Besitz kämpfen und über den niedergebrannten Holzstoß springen. Die den Festplatz umgebende Tannenhecke hatte am Anfang der Feier nur einen im Osten gelegenen Eingang — der Himmelsrichtung, in der die Sonne aufgeht. Sobald jedoch die echte Sonne ihren Himmelsweg beginnt, werden im Westen, Süden und Norden weitere Öffnungen in der Hecke angebracht, um anzudeuten, daß ihre Strahlen alle Richtungen der Erde erreichen.

Das von einer Hecke umgebene Bild der Sonne mit vier „Ausgängen" nach den verschiedenen Himmelsrichtungen ist ein beliebtes Ornament, das besonders in der indianischen Kunst immer wieder auftaucht. So wird zum Beispiel der mexikanische Feuergott geradezu als „Herr der vier Himmelsrichtungen" bezeichnet. Wenn die vier Öffnungen der „Hecke" mit dem gezeichneten Sonnensymbol durch Linien verbunden werden, ergibt sich das Bild eines Kreuzes. Die zahlreichen Kreuzsymbole, die in der Kunst der Indianer immer wieder Anwendung finden, sind also nichts anderes als symbolische Sonnendarstellungen.

Ähnliche symbolische Arten der Sonnenverehrung wie bei den Navaho sind bei vielen anderen Stämmen der Naturvölker üblich. So laden etwa die südafrikanischen Betschuanen an einem trüben Morgen die Sonne feierlich ein, die Wolken zu durchbrechen. Der Häuptling der „Sonnensippe" zündet hierbei ein neues Feuer in seiner Hütte an, und jeder einzelne Stammesangehörige trägt einen daran angezündeten Span in seine eigene Behausung.

Alle Feuerkulte gehen auf die Sonnenverehrung zurück, obwohl ihre individuellen Äußerungen in der Hochkultur, etwa bei den Parsen, den alten Mexikanern und anderen Völkern, oft grundverschieden sind.

Von gleicher Wichtigkeit sind die vielen Formen des Regenzaubers, denn die Segnungen des Regens sind ebenso bedeutungsvoll für das Wohl der Vegetation wie die der Sonne. Bei diesen Feiern steht stets eine Nachahmung des Regens im Vordergrund. So wird Wasser oder, wie bei einigen australischen Stämmen, sogar Blut, das aus einer geöffneten Ader fließt, auf den Erdboden vergossen. Umhergestreute Daunen symbolisieren die Wolken. Zuweilen werden auch kleine Quarzkristalle über die Frauen ausgeschüttet, die sich mit Hilfe von Rindenstücken vor dem „Regen" schützen. Bodenbauvölker spritzen in Zeiten der Dürre Wasser über ihre Pflanzungen oder quirlen das Wasser in einem Gefäß, um den Himmel zur Nachahmung anzuregen.

Eine zauberische Verbindung herrscht nun aber nicht nur zwischen einem Ding und seiner analogen Nachahmung — auch zwischen einem Ding und seinem Namen bestehen ähnliche magische Relationen. Selbst Philosophen wie Plato und Aristoteles glaubten, daß der Name eines Wesens oder Gegenstandes in seinem Innersten als unsichtbarer Kern enthalten sei und daß der Name die eigentliche Wesenheit eines Dinges bestimme.

Erst während der vergangenen zweitausend Jahre haben die mitteleuropäischen Völker den Gedanken entwickelt, daß die Worte nur Symbole für die Dinge seien, die sie bezeichnen, und daß Wesen und Gegenstände unabhängig von den Bezeichnungen bestehen, die wir für sie wählten. Je älter eine Kultur, um so stärker ist der Glaube, daß ein Ding und sein Name eine Einheit darstellen. Aus diesem Glauben haben sich die Zauberformel und der magische Ausruf entwickelt. So werden oft auch bei pantomimischen Nachahmungen gewisser Dinge und Erscheinungen feierliche Ausrufungen ihrer Namen mit den Zeremonien verbunden, und verschiedene australische Stämme „verstärken" die Wirkung ihrer Fruchtbarkeitstänze durch feierliche Ausrufungen der Namen der Jagdtiere.

Während diese zu Ehren der Nahrungsmittel und der Naturkräfte stattfindenden Zeremonien gewissermaßen positiver Natur sind, beschäftigt sich eine andere Abart der Magie mit der Beeinflussung von Menschen, und zwar in mehr oder weniger negativer Weise. Diese Form des Personenzaubers hat sich wahrscheinlich aus der instinktiv-emotionellen Geste entwickelt. Selbst bei uns geschieht es zuweilen, daß jemand beim Denken an einen abwesenden Feind oder an einen uns schlecht gesinnten Menschen, der aus Gründen der Konvention nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann, unbewußt die Faust ballt. Auch der Naturmensch, der fast stets seine Waffen mit sich herumträgt, reagiert in ähnlicher Weise und vollführt mit ihnen gewisse symbolische Drohgesten. Wenn danach der Feind zufällig krank wurde oder gar verstarb, so nahm man an, daß jene Gebärden die Ursache des erwünschten Resultats gewesen seien. Diese kausale Beziehung zwischen drohender Geste und dem den Widersacher befallenden Unheil wurde zur anerkannten „Tatsache", und die bloße Gebärde entwickelte sich zur bewußt angewandten Zauberhandlung, deren Zweck es war, eine gehaßte Person zu vernichten. Der sogenannte Personenzauber beruht also auf dieser Überzeugung.

So glauben etwa die Orang Benua der Malakka-Halbinsel, daß gewisse Zauberer die Macht besitzen, einen Feind aus der Entfernung zu töten, indem sie einfach einen Dolch oder eine andere Waffe drohend in der Himmelsrichtung seiner Behausung erheben. Verschiedene australische Stämme werfen zu demselben Zweck aus Menschenknochen geschnitzte Zauberpfeile in die Richtung des erwählten Opfers. Sie glauben, daß ein derartiger Pfeil immer weiter fliegt, bis er den „Verurteilten" erreicht hat, dessen Körper er, ohne eine äußere Verwundung zu hinterlassen, durchdringt, wodurch schwere Krankheit oder der Tod des Gehaßten verursacht werden. Andere Stämme verwenden einen Miniaturspeer, der zur Nachtzeit geworfen wird, während der Zauberer tief ein- und ausatmet. Zuweilen erfüllten ein angespitzter Knochen oder selbst ein Stück Holz denselben Zweck, sie werden durch das Singen oder Murmeln magischer Worte zauberkräftig gemacht.

Das Erstaunliche bei diesen Praktiken ist die Tatsache, daß ein Mann, der sich als Opfer derartiger Zauberhandlungen fühlt, oft tatsächlich daran stirbt, denn sein eigener Glaube an ihre Wirkungskraft ist genau so stark wie der des ihn Verzaubernden. Wenn ein australischer Eingeborener plötzlich unter seinen Habseligkeiten einen auf seltsame Weise zugespitzten Zauberknochen findet, über dessen Bedeutung er sich sofort klar ist, erleidet er einen derartigen Nervenzusammenbruch, daß er erkrankt, die Nahrungsaufnahme verweigert und zuweilen tatsächlich unter dem Druck der Drohung physisch und seelisch zusammenbricht. Er fühlt sich als Opfer von Mächten, die stärker als er selber und stärker auch als seine Feinde sind: er ist zum Tode verurteilt. Das gleiche beobachtete ich bei den Ojibwa-Indianern, bei denen der Medizinmann eine zauberische Muschel in den Feind aus der Entfernung „hineinschießt".

Denn alle diese durch Magie erzeugten Krankheiten werden nach dem Glauben der Naturvölker durch das Eindringen eines Fremdkörpers in den Leib des Menschen verursacht, sei es nun ein Knochen, ein Stück Holz, ein Stein, eine Muschel oder ähnliches. Für den „Getroffenen" gibt es nur eine Rettung: die Entfernung dieses Fremdkörpers durch einen anderen mächtigen Medizinmann, der die „Heilung" durch Saugen, Massieren, Singen und andere Methoden vornimmt, wobei die Schamanen alle ihre eigenen geheimen Tricks anwenden, um den „sichtbaren Beweis" der Heilung durch Vorzeigen des „herausgezauberten" Fremdkörpers zu erbringen.

Diese älteste Form des Personenzaubers hat eine Unzahl von jüngeren Varianten entstehen lassen, deren magische Wirkung stets auf irgendeinem Akt der Analogie beruht. Oft werden auch die dem Opfer angewünschten Leiden bis in die genauesten Einzelheiten hinein pantomimisch dargestellt, damit der Feind von ihnen in der gleichen Weise befallen wird.

Wenn in Kamtschatka ein Dieb nicht identifiziert werden kann, wirft man Tiersehnen ins Feuer und nimmt dabei an, daß die entsprechenden Sehnen im Körper des Verbrechers sich in derselben Weise zusammenziehen und damit den Mann verraten werden. Noch heute kommt es in den ländlichen Gegenden Europas vor, daß ein betrogenes Mädchen zur Mitternacht das Bild ihres ungetreuen Liebhabers oder eine danebenstehende Kerze durchsticht und die Worte dazu spricht: „Ich durchsteche das Licht und damit das Herz, das ich liebte", wobei sie glaubt, daß der Verräter ihrer Liebe an der „Verwundung" sterben muß.

Unterleibsschmerzen werden oft Dämonen zugeschrieben, die in hinterlistiger Weise die Gedärme des Befallenen „zusammenknoten". Aus diesem Grunde vermeiden es etwa die Lappen, ihre Kleidungsstücke zusammenzuknoten, denn dies würde die „Dämonen einladen", mit ihren Eingeweiden dasselbe zu tun. Selbst in manchen deutschen Dörfern herrscht noch heute der Glaube vor, daß Hexen es lieben, die inneren Organe des Menschen zusammenzuknoten, und daß sie ihn damit der Krankheit überliefern.

In Arabien besteht die Sitte, einen Verbrecher durch Analogiezauber zu überführen. Der Medizinmann ruft die gesamte Dorfbevölkerung zusammen und ordnet sie zum Kreise an, in dessen Mitte er sich niedersetzt. Dann fordert er alle auf, sich niederzusetzen, während er einen großen Nagel in die Erde treibt und dazu seine geheimen Zauberformeln singt. Am Schlüsse ruft er aus: „Erhebt euch!", was alle tun — außer dem einen, der sich schuldig fühlt und glaubt, daß seine Glieder an den Erdboden „angenagelt" sind. Der feste Glaube des Verbrechers selbst an diese Überführungsmethode macht sie wirksam.

Auch der sogenannte „Lebensbaum" ist nur ein anderes Beispiel für die Analogiemagie des Personenzaubers. Hier wird das künftige Schicksal eines neugeborenen Menschen mit dem Gedeihen eines kurz nach seiner Geburt gepflanzten Baumes verbunden, und was immer dem Baum geschieht, wird auch dem Menschen zustoßen.

Derartige symbolische Zauberhandlungen dienen jedoch nicht nur dazu, einen Menschen zu verhexen; sie können, wie wir bereits sahen, auch dazu dienen, den feindlichen Zauber aufzuheben oder ihn, ehe er erfolgt, im voraus zu verhindern.

In manchen europäischen Dörfern wird ein Beinbruch „geheilt", indem man ein Stuhlbein in einen Streckverband legt. Auch viele der außerordentlich weitverbreiteten „Reinigungszeremonien" dienen nur dem Zweck, einen angeblich in den menschlichen Körper eingedrungenen „feindlichen" Fremdkörper wieder aus diesem zu entfernen. So zwängen sich etwa Kranke, vor allem Rheumatiker, zwischen zwei in der tunesischen Moschee von Kairuan befindliche Säulen hindurch, um ihre Schmerzen dadurch „abzureiben". Während ihrer Reinigungsfeste springen die Japaner durch Reifen aus geflochtenem Gras, um etwaige Krankheitsstoffe „abzustreifen", und in Kamtschatka kriechen die Eingeborenen durch Holzreifen, um Körper und Seele „reinzuschaben". Die christliche Taufzeremonie ist eine präventive „Reinigungszeremonie der Seele" des neugeborenen Gemeindemitgliedes.

Das gemalte Jagdtier, das so oft im Mittelpunkt der Zauberriten der Sammler und Jäger steht, wird in späteren Kulturen durch ein Bild des Menschen vertreten, an dem irgendein Analogiezauber vorgenommen wird. Auch die bildliche Darstellung eines Körperteiles oder eines Dinges wird in ähnlicher Weise verwandt, wobei dem Original dasselbe zustößt, was die Zauberhandlung symbolisch an dem Bild vollführte. Zu dieser Art Zauber gehört die bereits erwähnte Handlung des Mädchens, das den ungetreuen Liebhaber durch Analogiezauber „tötet". Ihr Zauber wäre dann ein reiner „Ebenbildzauber", wenn sie statt der Kerze oder des Bildes etwa ein wächsernes Herz durchstäche.

Zauberhandlungen mit Hilfe von „Ebenbildern" sind über die ganze Welt verbreitet. Auf der Malakka-Halbinsel werden kleine Menschenfiguren aus Bienenwachs Verstümmelungen unterworfen, die ihren „Ebenbildern" zugedacht sind. Durchbohrt man also etwa ein Auge der Figur, so wird das „Original" blind werden; ein Durchstechen des Kopfes hat Kopf- und Gehirnschmerzen zur Folge; wird der Leib durchstochen, so wird das Opfer an Magengeschwüren leiden und so fort. Wünscht man dem Original der Wachsfigur aber den Tod, so muß diese vom Kopf bis zu den Füßen vertikal durchstochen werden, und man behandelt die Puppe genau so, als wäre sie die Leiche eines Verstorbenen.

Verschiedene amerikanische Indianerstämme schmelzen ein wächsernes Ebenbild des Feindes, um ihn zu „töten", oder sie verbrennen eine das Opfer darstellende Strohpuppe. Die Malaien „zerstören" die Ehe zweier Menschen, indem sie die Figur eines Mannes und einer Frau Rücken an Rücken aneinanderbinden, so daß sie „voneinander wegsehen".

Derartige Ebenbildzaubereien sind aber durchaus nicht auf primitive Kulturen beschränkt. Noch in historischer Zeit, selbst in der Gegenwart, kamen und kommen sie bei zivilisierten Völkern vor. Bei den Römern gehörten sie zu den logischen Methoden, um sich eines Feindes zu entledigen. Das Ebenbild eines Menschen wurde aus Wachs oder Blei geformt und dann unter dem Murmeln von Zauberformeln zerstört. Die mittelalterliche Sitte, das Ebenbild eines Menschen symbolisch zu verbrennen oder zu hängen, kommt noch heute bei politischen Demonstrationen vor. In der Steiermark „behext" man eine Wachspuppe mit Hilfe geheimnisvoller Zauberformeln und durchsticht ihr „Herz", um das Ebenbild zu töten. Die Landbevölkerung Nordenglands glaubt noch heute an die Geschichte von der Frau, die plötzlich bis auf die Knochen abzumagern begann. Kein Arzt konnte ihr helfen, aber als sie sich an den Dorfquacksalber wandte, riet er ihr, sich nach Dingen umzusehen, die ihr „Böses" brächten. Es gelang ihr daraufhin, ein von zahllosen Nadeln durchstochenes Schafsherz in ihrem Garten zu finden, nach dessen Zerstörung sie ihre Gesundheit wiedererhielt. Dieses Schafsherz war von ihren Feinden als Medium eines bösen Analogiezaubers benutzt worden.

Das Gegenstück dieses aktiven Bildzaubers ist der Verhütungszauber mit Hilfe von Ebenbildern. Denn genau so wie ein Mensch oder sein Herz durch Verstümmelung eines Ebenbildes krank gemacht oder getötet werden können, kann das Übel auch mit ähnlichen Methoden verhütet oder vertrieben werden. So wird in Gegenden, wo man annimmt, daß Krankheiten durch böse Geister erzeugt werden, ein Abbild dieser Geister — oft in Tiergestalt — erstochen oder vernichtet. Die biblische Sitte des „Sündenbocks" hat ihren Ursprung in dieser uralten Praktik des Verjagens des Krankheitsdämons. Erst nach der Entwicklung der „Sünden"konzeption wurde dieser Sündenbock zum Befreiungsmittel von moralischer Schuld. Während ihres Versöhnungstages „beluden" die alten Juden eine Ziege oder einen Vogel mit allen „Sünden" ihres Volkes und jagten das Tier in die Wüste. Die indischen Badaga „beladen" bei Begräbnissen einen jungen Stier mit den Sünden des Verstorbenen und vertreiben ihn unter großem Lärm.

Wo Krankheiten als durch die Götter auferlegte Strafen interpretiert werden, widmet man ein Bild des Kranken oder des befallenen Körperteils der Gottheit in der Hoffnung, daß sie dem Urbild ihre Gnade wieder zuwenden mögen. Die Votivgaben der Katholiken wurzeln in diesem Glauben. Figuren aller Art werden den Heiligen geweiht, oder Abbilder von Herzen, Füßen, Armen und ähnlichem werden auf den Altar gelegt, um die Glieder und inneren Organe der Erkrankten zu heilen. In seinem Gedicht „Die Wallfahrt nach Kevlaar" hat Heinrich Heine diesen frommen Analogiezauber beschrieben:

Und wer eine Wachshand opfert,
Dem heilt an der Hand die Wund';

Und wer einen Wachsfuß opfert .

Dem wird der Fuß gesund.

In Bayern verfertigen Leute, die an chronischem Kopfschmerz leiden, noch heute lebensgroße Köpfe aus gebranntem Ton, die mit Hafer gefüllt an Bäumen aufgehängt werden, an denen fromme Prozessionen vorbeiziehen. In Wunderorten wie Lourdes füllen die Krücken und Armschienen der Geheilten als Opfergaben ganze Kapellen, und in der schönen Kirche Notre Dame de la Garde, die auf den Hafen von Marseille hinabblickt, hängen Hunderte von Schiffsmodellen als Votivgaben von Kapitänen, deren Schiffe von der Madonna entweder sicher durch einen Sturm gebracht wurden, oder als Gaben, die mit Hilfe des Analogiezaubers Unheil während einer bevorstehenden weiten Reise verhüten sollen.

Eine Abart des Bildzaubers ist der Glaube, daß der Schatten eines Lebewesens es selber oder seine Seele sei. Wenn etwa ein Krokodil den Schatten eines Basutonegers „fängt", so muß der Mann sterben. Auf den Salomonen wird ein Eingeborener, der auf den Schatten des Königs tritt, mit dem Tode bestraft, und die Malayen glauben, daß ein Mensch erkrankt, wenn jemand seinen Schatten durchbohrt hat. Ein altes schwäbisches Gesetz gestand es einem Freien zu, der durch einen Leibeigenen beleidigt worden war, den Schatten des Beleidigers „in den Nacken zu schlagen".

Ähnlichen Ursprungs ist die Abneigung vieler Menschen gegen das Malen ihres Bildes oder die Aufnahme ihrer Photographie. Viele Naturvölker sind davon überzeugt, daß ein Mann, der das Bild eines anderen besitzt, dadurch eine zauberische Macht über ihn gewinnt. So ist es in der Casbah von Algier noch heute recht gefährlich, eine photographische Aufnahme der pittoresken Einwohner und ihrer Behausungen zu versuchen. Bei den Chippewa ließen die alten, von ihrer Macht überzeugten Zauberer sich bereitwillig von mir photographieren, verboten aber jede Aufnahme von Säuglingen, die noch zu schwach waren, „der Macht des weißen Mannes standzuhalten". Der Maler Kane, der einen Indianerhäuptling porträtierte, wurde danach einem peinlichen Verhör unterzogen, ob er damit nicht etwa einen tödlichen Krankheitskeim in den Häuptling gelegt habe, und als er sein Modell endlich mit einer Gabe von Tabak zu beruhigen suchte, erhielt er die Antwort, daß dies ein zu geringes Geschenk dafür sei, daß der Häuptling sein Leben riskiert habe. Der Maler sah sich schließlich gezwungen, eine Kopie des Bildes herzustellen, die er als das angebliche Original öffentlich zerriß, um die Gefühle des erregten Stammes zu beruhigen.

In dem Glauben, daß die Herstellung des Bildes eines Menschen seiner Seele Schaden täte, verbot Mohammed alle bildlichen Darstellungen von Personen. Aus diesem Grunde sind die Moscheen bis auf den heutigen Tag bildlos geblieben.

Auch der Name eines Menschen hat dieselben zauberischen Eigenschaften wie sein Schatten oder sein Bild. Geister, Dämonen oder Verstorbene werden durch die feierliche Nennung ihrer Namen zum Erscheinen gezwungen, und zwar oft in zeremonieller Wiederholung. So heißt es denn im Faust: „Du mußt es dreimal sagen."

Die Angst, daß die Kenntnis des Namens eines Menschen ihn bösem Zauber aussetzen könne, hat verschiedene australische Stämme dazu veranlaßt, nur Kindern, die noch zu jung sind, um Feinde zu haben, allgemein bekannte Namen zu geben. Sobald sie die Geschlechtsreife erlangen, wird der Name nicht mehr ausgesprochen, und sie werden nur noch als „Vater", „Bruder", „Onkel" und so weiter benannt.

In Gippsland, einer südöstlichen australischen Gegend, werden Personennamen als Stammesgeheimnis streng gehütet, damit kein Fremder ihre Träger durch Zauberei schädigen kann. Auch die meisten amerikanischen Indianer vermeiden es, Namen auszusprechen, sondern bewegen ihre Lippen nur in der allgemeinen Richtung der Person, von der sie reden. Zuweilen werden auch Spitznamen für die echten gebraucht, um deren Träger zu schützen — eine Sitte, die von den modernen Verbrechern übernommen worden ist. In Äthiopien hat kein Zauberer Macht über einen Menschen, dessen wahren Namen er nicht kennt. Bei vielen Stämmen ist aus dem gleichen Grunde das Aussprechen des Namens ihres Häuptlings oder Herrschers verboten, und auf Romeo wird der Name eines kranken Kindes geändert, um ihm mit Hilfe eines neuen Namens neue Lebenskraft zu geben.

Dem Namenszauber eng verwandt ist der Wortzauber im weiteren Sinne. So wird die drohende Geste gegen den abwesenden Feind oft durch einen ausgesprochenen Fluch oder durch die Worte „Du wirst sterben", „Ich töte dich!" verstärkt. Der Wortzauber erscheint in seiner stärksten Form, wenn die drohende Gebärde gänzlich unterlassen und ausschließlich durch das gesprochene Wort ersetzt wird.

Alle feierlichen Bekräftigungen, Eide und Flüche gehen auf diese Wurzel zurück, und selbst unsere Gerichtshöfe forderten von dem Zeugen das beteuernde „So wahr mir Gott helfe!" Auch die sogenannten Ordale sind gleichen Ursprungs: Gott oder die Überirdischen sollen in öffentlicher Versammlung dartun, ob ein Mann die Wahrheit gesprochen hat oder nicht, ob er schuldlos oder ein Verbrecher ist. Während eines Ordals muß der Verdächtige ein gefährliches Objekt wie etwa ein glühendes Metallstück halten, Gift zu sich nehmen oder durch ein Feuer schreiten, um seine Unschuld zu beweisen. Zuweilen ist das bei derartigen Gelegenheiten getrunkene „Gift" in Wirklichkeit harmlos, und nur das schuldige Gewissen des Verbrechers und sein eigener fester Glaube an die Unfehlbarkeit der Probe lassen ihn die gewünschte Reaktion zeigen. Wo wirkliches Gift getrunken wird, sieht man Erbrechen als Beweis der Unschuld an, während der Schuldige, der den tödlichen Trunk nicht wieder von sich geben kann, sterben muß. Oft spielt bei diesen Entscheidungen ein erstaunliches medizinisches Wissen mit.

Der geschriebene Name eines Menschen wird bei Zauberhandlungen in ähnlicher Weise benutzt wie sein Bild oder sein ausgesprochener Name. So schreiben etwa die Hindus, um die Zauberkraft eines magischen Ebenbildes zu erhöhen, den Namen des Opfers auf die gegossene Figur; und auf Bali wird ein Mann dadurch „getötet", daß man seinen Namen auf eine Bahre oder ein Leichentuch schreibt, die an seiner Statt begraben werden. Ebenso kann der auf ein Stück Papier geschriebene Name eines Mannes symbolisch gehängt oder verbrannt werden, um den Namensträger selbst dadurch zu vernichten.

Eine Kombination des Niederschreibens heiliger oder unheiliger Worte mit der Anwendung magischer Gegenstände führte zur Entwicklung des Amuletts, des Talismans und des „Glücksbringers". Die Sitte, mystische Sätze mit sich herumzutragen, findet sich besonders in der mohammedanischen Welt, wo diese Talismane zumeist aus Koranzitaten oder gezeichneten Symbolen bestehen, die auf einen Papierstreifen geschrieben wurden. Ein Eingeborener von Oberguinea zeigte einst voller Stolz einem Forscher ein solches Amulett: es war ein Stück Papier, das in deutscher Sprache die Warnung vor dem Träger, „dem größten Lumpen der Gegend", enthielt.

Um die Zauberkraft des geschriebenen Wortes zu verstärken, lösen die Mohammedaner zuweilen die Schrift in Wasser auf, das sie dann trinken — oder sie trinken aus einer Metallschale, in die die heiligen Worte eingraviert sind.

Wenn der altchinesische Arzt ein bestimmtes Medikament nicht schnell genug erhalten konnte, schrieb er dessen Namen zuweilen auf einen Papierstreifen der in Wasser eingeweicht wurde. Wenn die Tusche sich aufgelöst hatte, trank der Kranke den Absud als Ersatz für die Medizin. In ähnlicher Weise wurden solche Rezepte auch verbrannt, und die Asche wurde von dem Patienten verschluckt. Bei den alten Japanern war es üblich, den Wortlaut eines Eides auf einen Papierstreifen zu schreiben, den der Schwörende verbrannte, worauf er die Asche aß. Man glaubte, daß im Falle eines Meineides die verschluckte Asche als Gift wirken und den Lügner töten würde.

Zu den zauberkräftigsten Substanzen gehören auch gewisse Körperabfälle, die von Übelwollenden zur Verzauberung des ehemaligen Besitzers verwendet werden. Haar, Fuß- und Fingernägel, Speichel und von den Kleidern der zu verzaubernden Person abgerissene Fetzen werden als Teile des Individuums selbst betrachtet, die ein Stück seiner Seelensubstanz enthalten und deshalb an seiner Statt mit einem magischen Fluch belastet werden können. Diese Anschauung ist über die ganze Welt verbreitet. So tötet man etwa auf den Molukken einen Feind, indem man seinen weggeworfenen Betelkalk einige seiner Haare und ein Stück Stoff von seinem Gewand sammelt und diese Mischung in drei Bambuszylinder stopft, von denen einer unter einem Sarg vergraben, der zweite unter den zu dem Hause des Opfers führenden Stufen verscharrt und der dritte in das Meer geworfen wird. Man nimmt an, daß dies zum sichern Tode des Feindes führt.

Aus diesem Glauben hat sich die Sitte entwickelt, zur Verhinderung böswilliger Verzauberung alle solche Körperüberreste sofort zu vernichten. Wenn der Muatajamo, ein mächtiger zentralafrikanischer Herrscher, ausspuckt, bedeckt ein Sklave den Abfall sofort mit Erde, die er glättet, so daß die Stelle unauffindbar ist. Den Häuptlingen der Südsee folgt ein ständiger Begleiter, der einen Spucknapf trägt, dessen Inhalt an geheimer Stelle vergraben wird. In Südböhmen betrachtet man es noch heute als „gefährlich", Küchenabfälle in der Nähe eines Hauses herumliegen zu lassen, denn böse Hexen könnten dadurch erfahren, was im Hause selbst vorgeht, und den Bewohner schädigen. In Mähren verbrennt man sofort jedes abgeschnittene Haar, und auch in Schottland herrscht die Volkssitte, abgeschnittene Nägel oder Haare ins Feuer zu werfen.

Da derartige „verzauberte" Körperabfälle als Ursachen vieler Krankheiten angesehen werden, versuchen Erkrankte oft, diese Substanzen von dem angeblichen Zauberer zurückzukaufen. So verdienen etwa die Medizinmänner der Neuen Hebriden ein schönes Stück Geld, indem sie solche Körperabfälle aufsammeln und sie an den ehemaligen Besitzer zurückverkaufen. Auf der Insel Tana trägt jeder Eingeborene ein Körbchen mit sich herum, in dem er seine Körperabfälle sammelt und dessen Inhalt „ertränkt" wird, sobald er an einem fließenden Gewässer vorbeikommt. Die australischen Narrinyeri sammeln die Knochen, von denen jemand das Fleisch abgenagt hat, und glauben damit Macht über den Esser zu erlangen, den sie in Streitfällen dann leicht mit Hilfe der Knochen „vernichten" können.

Auch die vielen Arten des über die ganze Welt verbreiteten Liebeszaubers hängen oft mit der Verwendung von Körpersubstanzen oder Eigentumsstücken des Geliebten zusammen, die dazu benutzt werden, die verweigerte oder verlorengegangene Leidenschaft neu zu entfachen. Meist werden derartige Objekte in ein kleines Bündel eingenäht oder-gebunden und durch Zaubersprüche magisch wirksam gemacht. Wie eine solche Zauberhandlung sich etwa bei den Hopiindianern abspielt, ist von Beaglehole beschrieben worden:

Ein Mann, der sich leidenschaftlich in ein gewisses Mädchen verliebt, stiehlt einige ihrer Haare, ihren Speichel oder ein Stück von ihrem Schal, oder er zieht ein paar Fäden aus ihrem gewebten Gürtel heraus. Er verschnürt diese Dinge zusammen mit einer ,Gebets-feder' zu einem kleinen Paket, betet, daß das Mädchen ihn begehren möge, und steckt das Bündel unter seinen Gürtel oder in seine Tasche. Daraufhin fängt das Mädchen an, ,unterhalb des Nabels zu verbrennen', und solange er das Päckchen bei sich trägt, wird sie ihn jede Nacht besuchen. Dieser Liebeszauber ist jedoch gefährlich, da der Mann und das Mädchen davon in Liebesraserei verfallen und sich gegenseitig töten können. Sollte die Leidenschaft des Mannes für das Mädchen erkalten, so vergräbt er das Bündel und macht sich ein neues, falls er eine andere Geliebte begehrt."

Eine seltsame Art des Personenzaubers ist die magische Nutzbarmachung der Fußspuren des oder der Geliebten. Man gräbt diese Fußspuren aus und trocknet die Erde in einem Behälter. Trocknet sie aus, so „vertrocknet" auch die Gesundheit des Verzauberten. Die Malayen formen aus solcher „Fußspurenerde" kleine Puppen, die den Feind, der die Spuren hinterließ, darstellen und die an seiner Statt geröstet oder auf andere Weise „getötet" werden. Auch Liebende bedienen sich bei ihnen solcher Fußspurenerde, um die Erwiderung ihrer Leidenschaft zu erzwingen. In Südslawien graben Mädchen die Fußspuren ihrer spröden Liebhaber aus und pflanzen „ewigblühende" Ringelblumen hinein, worauf die Leidenschaft des Begehrten wie die Blume wachsen und niemals verblühen wird.

Je älter eine Kultur, um so stärker sind in ihr derartige Zaubervorstellungen, die sich bei den Bodenbauern zugunsten eines stark ausgeprägten Glaubens an die Zauberkraft der Toten und ihrer Seelen abschwächten, in den alten Hochkulturen jedoch eine neue Blüte erreichten.

Trotz unserer modernen wissenschaftlichen Aufgeklärtheit bestehen auch in unserer heutigen Zivilisation noch uralte Zaubervorstellungen, besonders während der Zeit der Gefahr und der Gefühlserregung. Noch während des zweiten Weltkrieges schrieben viele Frontsoldaten ihre Errettung einem kleinen Amulett oder Glücksbringer zu, den sie ständig bei sich trugen. Die zu diesem Zweck auserwählten Objekte waren oft von gleicher oder ähnlicher Art wie die Talismane der primitivsten Völker.

Obwohl sich auch in den Kulturen der Sammler und Jäger der Glaube an die Totengeister und die Vorstellung, daß die Verstorbenen weiterleben, finden, sind diese Vorstellungen bei ihnen noch nicht stark genug entwickelt, um das bei ihnen vorherrschende rein magische Element zu verdrängen. Dies geschieht erst in den Kulturen der Bodenbauvölker. Ihre Wirtschaftsform und ihre seßhafte Lebensweise, die keine körperliche oder geistige Flucht vor „feindlichen" Zauberkräften gestatten, haben die Verehrung der Toten und ihrer Kräfte in den Mittelpunkt ihres gesamten Lebens und ihrer gesamten Weltanschauung gestellt. Denn in der Vorstellung der Naturvölker ist der Tod eines Menschen keine natürliche Erscheinung, sondern ein durch Zauberkraft verursachtes „Unglück". Eine mystische Macht, die stärker war als der Verstorbene, hat ihn besiegt und der Lebensfähigkeit beraubt.

Diese Lebenskraft, die im lebendigen Körper vorhanden ist, ihn aber bei Eintritt des Todes verläßt, ist die sogenannte Seele eines Menschen. Obwohl die Vorstellung dieser „Seele" bei den verschiedenen Naturvölkern grundverschieden ist — sie mag im Atem, in der Körperwärme, im Herzen, im Blut, in Leber oder Niere, im Schatten oder Spiegelbild eines Menschen „wohnen" — so wird sie doch stets mit irgend etwas Körperlichem kombiniert gedacht und als Ursache, das Phänomen des Lebendigseins zu erzeugen. Daß dieses zauberhafte Ding, diese Seele, jedoch nicht untrennbar mit dem Körper verbunden ist, scheinen die Träume des Menschen zu beweisen. Denn was anderes könnten die Träume sein als die Abenteuer der Seele, die sich, während der Körper schläft, davonmacht, um unabhängig ihre eigenen Ausflüge zu unternehmen? Es wird daher als feststehende Tatsache angenommen, daß die Seele die Fähigkeit besitzt, außerhalb des Körpers zu existieren. Die logische Schlußfolgerung ist, daß die Seele im Augenblick des Todes den Körper für immer verläßt.

In Kulturen, wo man an das Vorhandensein eines Seelenlandes glaubt, beantworten die Eingeborenen daher oft die Frage nach der Ursache eines Todesfalles damit, daß die Seele des Erdenlebens müde geworden sei und sich deshalb davon zurückgezogen habe. Dies ist jedoch eine sekundäre Interpretation. In den ältesten Kulturen werden nur zauberische Einflüsse für die Trennung von Körper und Seele verantwortlich gemacht. Diese zauberischen Einflüsse sind magischen Handlungen zuzuschreiben. Sie sind von Menschen begangene Verbrechen, und es haben sich daher zahlreiche Sitten und Gebräuche entwickelt, deren Ziel es ist, den schuldigen Zauberer zu identifizieren und zu bestrafen. Welcher Art nun sind die Handlungen, und welches ist das Wesen dieses Lebensgeistes oder der Seele? Wohin begibt sie sich nach dem Tode?

Der Glaube, daß sie in der Form eines Schattens in der Nähe des Grabes verweilt — oft nur während einer begrenzten Zeitdauer —, ist außerordentlich verbreitet. Zuweilen wird auch angenommen, daß sie sich unter den Lebenden weiter im Stammesgebiet aufhält. Als eine Parallelvorstellung findet sich selbst in den ältesten Kulturen, etwa bei den zentralaustralischen Stämmen, der Glaube, daß die Seele sich zu einem ganz bestimmten für sie reservierten Ort begibt. Wenn ein Kind geboren wird, so verläßt eine solche Seele ihren Aufenthaltsort und dringt in den Leib der Mutter ein. Wächst dann das Kind heran und stirbt, so kehrt die Seele einfach wieder ins Geisterland zurück und kommt je nach Belieben wieder, um sich weiteren Wiedergeburten zu unterziehen. Dieser uralte Glaube an einen Kreislauf von Wiedergeburten, der sich bereits bei den primitivsten Stämmen findet, ist die Keimzelle des Glaubens an eine Reinkarnation geworden, der in der indischen Hochkultur seine höchste Entwicklung erreicht hat.

Dieser uralte Gedanke wird durch eine Menge von Begleitvorstellungen weiter fortgesponnen. Wird ein Mann von einem Krokodil oder Tiger getötet, so lebt seine Seele in diesen Tieren weiter. Ertrinkt er, so verwandelt er sich in einen Wassergeist; wächst eine Pflanze auf seinem Grabe, so wohnt die Seele des dort Beerdigten in dieser Pflanze. In der Nähe einer Leiche hausende Würmer, Schmetterlinge, Käfer, Libellen, Vögel und besonders Eidechsen und Schlangen werden als neue Inkarnationen der Seele des Verstorbenen angesehen. Der Sterbende kann sich zuweilen sogar selbst das Wesen aussuchen, in dem er wiedergeboren zu werden wünscht.

Sehr oft wird ein scharfer Unterschied in dem Verhalten der Seele vor und nach dem Begräbnis des Körpers gemacht. Solange noch keine Bestattung stattgefunden hat, hält sich die Seele als gefährlicher Geist in der Nähe des Körpers auf und kann sogar den Lebenden in schrecklicher Gestalt erscheinen. In Gegenden, wo zwei aufeinanderfolgende Begräbnisse üblich sind, verweilt die Seele so lange bei dem Körper, bis die endgültige und letzte Bestattung stattgefunden hat. Ein Mensch, der aus irgendeinem Grunde kein förmliches Begräbnis erhalten konnte, sieht sich zu einer dauernden Existenz als ruheloser Geist verdammt, der die Lebenden schreckt. Nur ein endgültiges und förmliches Begräbnis kann diesen Geist erlösen. Nun erst ist die Seele frei, in das Land der Totengeister zu reisen, so wie der jeweilige Stamm es sich vorstellt. Zuweilen ist es mit dem Lande, aus dem die Vorfahren kamen, identisch. Obwohl es von dem wandernden Stamm vor undenklichen Zeiten verlassen wurde, ist es noch immer seine geistige Heimat.

Oft wird auch die Lage des Seelenlandes in unmittelbare Verbindung mit dem Lauf der Sonne gebracht. Der Sonnengott ist der Führer, der die Seelen der Verstorbenen zu ihrer neuen Heimat geleitet. Auf den Salomonen gehen sie gemeinsam mit der untergehenden Sonne in den Ozean ein. Diese Vorstellung ist eng mit dem Glauben verbunden, daß die Sonne während ihres Aufganges am Morgen geboren wird und am Abend stirbt. Eine polynesische Mythe endet mit der Feststellung, daß, wenn Maui, der Sonnengott, nicht gestorben wäre, auch die nach ihm geborenen Menschen nicht sterben müßten.

Zuweilen verursacht auch die Sonne selbst den Tod der Menschen, indem der Sonnengott vom Himmel aus die Sterblichen mit seinem Speere (den Sonnenstrahlen) trifft und sie zu sich hinaufzieht. Dort, wo man sich die Sonne als Spinne in ihrem Strahlennetz vorstellt, ist sie eine Hexe, die die Menschen in ihr Netz lockt, um sie zu verschlingen. Aus diesem Grunde wurde der mexikanische Totengott stets als Spinne dargestellt. Wo der Sonnengott an Stricken oder auf Leitern (den Strahlen) zum Himmel steigt, folgen die Seelen der Verstorbenen ihm auf demselben Wege ins Land der himmlischen Ruhe. Aus dieser Vorstellung ist die Leiter in Jakobs Traum hervorgegangen, auf der die Engel (die personifizierten Seelen der Toten) auf und ab steigen. In Neuseeland führen Ranken hinab ins Totenland — es sind dieselben Ranken, an denen einst die Vorfahren zur Erde hinaufstiegen. In dem alten Kongokönigreich durfte der Sonnenpriester nicht eines gewöhnlichen Todes sterben. Er hatte sich zu erhängen, um an dem Seil zur Sonne hinaufklettern zu können.

Auch eine Brücke kann zur Sonne führen, oder ein Geisterschiff erscheint, um die Seelen der Verstorbenen in das Land der Sonne zu befördern. Auch Charon, der griechische Fährmann, dessen Boot die Seelen über den Styx zur Unterwelt bringt, ist dieses Ursprungs.

Aber nicht nur Brücken oder Boote können die Seelen in ihre neue Heimat tragen, auch Tiere und ganz besonders Vögel sind oft dazu ausersehen, sie ins Totenland zu befördern. Aus dieser Vorstellung hat sich der Gedanke entwickelt, daß die Seele selbst mit Flügeln ausgestattet sei. Besonders die altägyptischen Darstellungen zeigen deutlich das Übergangsstadium der Entwicklung, in dem die menschliche Gestalt mit der eines Vogels zu einem Wesen verschmolzen gedacht wird. Der Falkengott Horus zeigt deutlich seinen Sonnenursprung, und Horus war der Titel aller dynastischen und vordynastischen ägyptischen Könige. Ihre Macht war in der Sonnenstadt Heliopolis konzentriert, dessen König den Titel Harachte ("Horus, der im Horizonte lebt") trug, und die Kombination von Vogel und Sonne symbolisierte seine Macht über die Menschen und ihre Seelen. In der christlichen Vorstellung haben sich die Flügel des Seelenvogels zum Attribut der Engel ausgebildet.

Auch die Sonne selbst kann als Vogel dargestellt werden. Ein altes Überbleibsel dieser Vorstellung ist die Geschichte, die wir den kleinen Kindern erzählen: daß Neugeborene vom Storch gebracht werden, der sie aus einem Teich holt. In vielen alten Ländern erhob sich die Sonne aus dem Meere, und der Storch mit seinen roten Füßen war dem Feuer und damit der Sonne verwandt.

Die verschiedenen Formen der Begräbnisse sind alle mit den Vorstellungen über die Reisen der Seele eng verknüpft und beruhen entweder auf der uralten Angst vor den Totengeistern oder sind, wie bei den Bodenbauvölkern, durch den Wunsch beeinflußt, die Kraft der Totenseelen zugunsten der lebenden Gemeinschaft nutzbringend auszuwerten. Durch Lärm oder Drohungen werden die Seelen erschreckt, so daß sie von ihren „bösen Absichten" ablassen, oder sie werden mit Nahrungsmitteln und Geschenken verlockt, an ihrem Orte zu bleiben und nicht zu den Lebenden zurückzukehren.

In jüngeren Kulturen hat diese Furcht vor dem Totengeist dazu geführt, daß nicht nur die Kleider, Waffen und Schmuckstücke des Toten mit ihm beerdigt werden, sondern daß man ihm als Begleiter ins Seelenreich sogar die während der Begräbniszeremonien zu Ehren des Verstorbenen getöteten Haustiere, Reit- und Lasttiere, ja selbst Sklaven und Frauen mitgibt. So viele Menschen und Tiere wie nur möglich werden getötet, um die Seele des Verstorbenen zu trösten und sie davon abzuhalten, sich etwa einsam zu fühlen und zum Schrecken der überlebenden wiederzukehren.

Da man von allen Seelen annimmt, daß sie sich nach Gesellschaft sehnen, sucht man ihnen lieber von vornherein Begleiter aus, denn sonst könnten sie zurückkehren und sich Gefährten aus den Reihen der überlebenden erwählen.

Um dieses Bedürfnis der Totenseele nach Gesellschaft zu befriedigen, töten manche Stämme Kriegsgefangene oder selbst Fremde, die sie heimtückisch überfallen. Diese Sitte war der Ursprung der unrühmlich bekannten Praktik des sogenannten „Koppensnellens", die in der ostindischen Inselwelt üblich ist. Die Opfer des Koppensnellens sind zumeist harmlose Honigsucher oder Besucher der Wasserplätze, die mit Hilfe der Gora oder Fanggabel aus dem Hinterhalt getötet werden. Alle diese Gebräuche gehen auf das Bestreben zurück, der Seele des Verstorbenen in ihrem Wunsche nach Gefährten im Totenreich zuvorzukommen, ehe sie selbst sich einen Kameraden aus den Reihen der Lebenden holt. Da die nächsten Verwandten sich in dieser Hinsicht am meisten gefährdet fühlen und da man annimmt, daß sie andere mit ihrer „Gefährlichkeit" anstecken könnten, müssen sie zuweilen während einer gewissen Zeit in Abgeschlossenheit verbringen und sich auch oft erst einer Reinigungszeremonie unterziehen, damit die Gemeinschaft vor dem ihnen anhaftenden „Totengift" geschützt wird.

Eine andere Vorsichtsmaßnahme besteht darin, den Namen des Toten nicht auszusprechen, denn, wie wir ja schon gesehen haben, kann das Aussprechen des Namens eines Wesens dessen unerwünschtes Erscheinen hervorrufen. Der Glaube an die Macht der Totenseelen hat sich aus der Angst vor den Toten entwickelt. Er veranlaßt aber auch die Lebenden, Nutzen aus dieser Macht zu ziehen, wie man ja auch die Macht der Naturkräfte zum Vorteil der Gemeinschaft nutzbar zu machen versucht. Man glaubt dies zu erreichen, indem man die Seelen der Abgeschiedenen in nächster Nähe zu halten sucht, und zwar mit Hilfe der sogenannten Ahnenfiguren.

In Zentralaustralien werden sofort nach der Geburt von Kindern als Symbole ihrer Seelen flache Holzstücke oder Steine angefertigt, so daß jeder Eingeborene sein eigenes Seelenholz oder seinen Seelenstein besitzt, die unter dem Namen tjurunga bekannt sind. Obwohl die Seele eines Menschen nach seinem Tode in das Totenland geht, glaubt man, daß seine tjurunga oder Tschuringa auch dann noch einen Teil seiner Seelensubstanz enthält. Aus diesem Grunde verwahren die Überlebenden die Seelenhölzer und -steine der Verstorbenen durch viele Generationen hindurch und betrachten sie als ihr heiligstes Besitztum. Auf dem Stammesgebiet werden ganze Sammlungen solcher Seelensteine in sorgfältig angelegten Verstecken verwahrt und während der heiligen Zeremonien hervorgeholt, um bei den Initiationsfeiern und Fruchtbarkeitsriten ihre vereinten magischen Kräfte zum Nutzen der Lebenden wirken zu lassen.

Von ähnlicher Bedeutung sind die sogenannten nurtanjas und waningas der Nord- und Zentralaustralier. Sie sind schildartige Symbole, die aus einigen mit menschlichem Haar zusammengebundenen Speeren und rotweißen Federornamenten bestehen. Bei gewissen heiligen Feiern wird ihre obere Spitze mit einigen daran aufgehängten Seelensteinen geschmückt.

Aus diesen Seelenhölzern und Seelensteinen der australischen Sammler und Jäger haben sich dann in jüngeren Kulturen die Ahnenfiguren der Bodenbauer entwickelt, zu denen vor allem die bekannten Fetischfiguren gehören. Diese Ahnenbilder werden jedoch nicht bei der Geburt oder überhaupt zu Lebzeiten des jeweiligen Individuums hergestellt, sondern erst nach seinem Tode. Sie sind nicht mit der Seele eines lebendigen Menschen gewissermaßen identisch, sondern enthalten seine zweite oder „Totenseele". Im Laufe späterer Entwicklungen haben sie dann ihre ursprüngliche religiöse und magische Bedeutung verloren und sind mehr oder weniger zur Bedeutung von Gedächtnismonumenten herabgesunken. Außer den geschnitzten Ebenbildern der Verstorbenen werden auch ihre Schädel und anderen Knochen als Träger ihrer Seelenkraft verehrt, und zuweilen treten die geschnitzte Figur und etwa der Schädel eines Toten als kombinierte Ahnenfigur auf.

Da der Schädel oft als Sitz der Seele angesehen wird, verwahrt man ihn häufig als zauberkräftigen Fetisch, zumal wenn er einem Häuptling, Priester oder arideren Würdenträger angehört hat. Der Schädelkult beschränkt sich jedoch nicht allein auf die Schädel der eigenen Vorfahren, sondern erstreckt sich auch auf jeden nur irgendwie erhältlichen Schädel, mag er nun von Freund oder Feind herrühren.

Aus dem Toten- und dem Schädelkult hat sich .der Maskenkult mit seinen Tänzen und dramatischen Vorführungen entwickelt. Nicht mehr der Schädel, sondern die geschnitzte Maske symbolisiert nun die Totenseele, den Geist oder den Zauberdämon. Diese Seelenkräfte sind jedoch nicht nur menschlichen Wesen eigen. In der Weltanschauung des sogenannten Animismus treten Pflanzen und Tiere, Himmelskörper, Berge, Flüsse und Wolken als mit Seelen und zauberischen Kräften begabt auf. So gießt denn mancher afrikanische Eingeborene, ehe er einen Baum fällt, nach dem ersten Schlag in feierlicher Weise etwas Palmöl auf den Boden, um die Seele des Baumes zu versöhnen und ihre Rache von dem „Angreifer" wegzulenken. Die Ansprachen an Wurzeln vor dem Ausgraben und die Sitte der nordamerikanischen Indianer, ein erlegtes Beutetier um Entschuldigung zu bitten, sind desselben Ursprungs.

Besonders die Eskimo geben detaillierte Erklärungen für ihre Ehrfurcht vor der Seele eines getöteten Beutetiers ab. So glauben sie etwa, daß die Seehunde und Walfische, die im Salzwasser leben, an ununterbrochenem Durst nach Süßwasser leiden und daß sie es deshalb dem Jäger gestatten, sie zu töten, wenn er ihnen als Gegengabe einen Trunk von Süßwasser anbietet. Sollte er jemals die Pflicht vernachlässigen, dem frischgetöteten Tier einen Becher Süßwasser in das Maul zu gießen, so würden die noch lebenden Seehunde dies sofort erfahren und dem unzuverlässigen Jäger keine Möglichkeit geben, sie zu töten. Mit den Eisbären verhält es sich etwas anders. Da sie den Schnee ablecken, sind sie niemals durstig. Sie begehren jedoch den Besitz der vom Menschen verfertigten Geräte, und zwar wünschen sich die männlichen Bären Werkzeuge wie Jagdmesser oder Bogenbohrer, während es die Weibchen nach Frauenmessern, Fellkratzern und Knochennadeln verlangt. Der Forscher Vilhjalmur Stefansson berichtet darüber in seinen Aufzeichnungen das Folgende:

Wenn also ein Eisbär von einem Jäger getötet worden ist, so begleitet seine Seele die abgezogene Haut zum Hause des Mannes und hält sich dort einige Tage lang auf. Während dieser Zeit wird das Fell hinter dem Hause aufgehängt, und zwar gemeinsam mit den Werk-
zeugen, die der Bär sich gewünscht hat, je nach seinem Geschlecht. Nach dem vierten oder fünften Tag wird dann die Seele des Bären mit Hilfe einer Zauberformel vertrieben, wobei die Seele des Bären die Seelen der ihm angebotenen Werkzeuge mit sich nimmt, um sie zu benutzen."

Die Eskimojäger und ihre Frauen wenden äußerste Sorgfalt an, um die Seelen der Jagdtiere auf diese Weise zufriedenzustellen. Vernachlässigen sie ihre Pflichten, so kommen sie nicht nur bei den Beutetieren (deren Kameraden sich weigern, sich von ihnen töten zu lassen), sondern auch bei den Menschen in üblen Verruf. „Manche Frauen", schreibt Stefansson, „sind im ganzen Stamme wegen dieser schlechten Charaktereigenschaft bekannt, und sollte ihr Mann sterben, so ist es ihnen wegen ihrer Nachlässigkeit in der Behandlung der Tierseelen unmöglich, einen anderen Gatten zu finden."

Wie dieser Glaube an die „Seelen der Werkzeuge" beweist, sind nach der animistischen Weltanschauung selbst tote Dinge mit Seelen begabt. Deshalb werden auch gewisse Handwerker, die diese Dinge herstellen, als mysteriöse und zuweilen gefährliche Personen angesehen, die die Macht haben, die Seelen der von ihnen verfertigten Gegenstände zu beeinflussen.

Selbst gute und schlechte Charaktereigenschaften werden auf die Anwesenheit gewisser in der menschlichen Seele wohnender Geister zurückgeführt, und überall finden sich „Krankheitsdämonen", die sich aus dem Glauben an die Totengeister entwickelt haben. Ihnen verwandt sind die Elfen und Kobolde unserer Märchen, denen man mit den gleichen Mitteln schmeicheln muß, wie es in den primitiven Kulturen mit den Totengeistern geschieht.

Aus allen diesen Beispielen ergibt sich die Tatsache, daß die Welt der Naturvölker von unsichtbaren Geistern und Zauberwesen bewohnt ist, die die Freunde oder Feinde der Lebenden sind. Um ihre Gunst zu erringen, muß der Mensch ihnen seine besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Einigen besonders Erleuchteten ist die Gabe verliehen, die Wünsche dieser Wesen zu verstehen und sie für die Gemeinschaft zu interpretieren. Denn der Flug der Vögel, die Strömungen der Gewässer, die Eingeweide der Tiere, die Art, wie ein geworfener Stab niederfällt oder ein Orakeltier sich bewegt, verraten dem Kundigen die Gebote der stummen und dennoch so überaus mächtigen Geister, und die Menschen bemühen sich, ihre Handlungen dementsprechend einzurichten. Aus dem Glauben an derartige symbolische Vorzeichen haben sich die Karten- und Würfelspiele entwickelt, und das „Lesen der Zukunft" aus Spielkarten, aus Teeblättern oder aus dem Kaffeesatz geht auf diesen Ursprung zurück.

Der Glaube an die Macht der Seelen, der sich in den frühesten Formen der Mythologie widerspiegelt — wobei Himmel und Erde und die Naturkräfte genau nach den Erfahrungstatsachen des irdischen Lebens analog vorgestellt werden — hat endlich seine höchste Entwicklung in dem Glauben gefunden, daß es übernatürliche Wesen geben muß, deren Kräfte denen der Menschen weit überlegen sind. Die zahlreichen über den Sterblichen thronenden Götter der Menschheit, von denen viele ganz bestimmte Funktionen und Eigenschaften besitzen, zeigen fast ohne Ausnahme ihren Ursprung aus den Vorstellungen älterer Kulturen.

So haben vor allem die hervorragendsten Götter der alten Hochkulturen gewisse Tierattribute in ihrer Erscheinung beibehalten. Besonders die ägyptische Götterhierarchie liefert hierfür schlagende Beispiele. Der Sonnengott Horus mit seinem Kopf des Sperlingshabichts war der Herr der feuerspeienden Schlange, des Blitzes, der seine Feinde vernichtete. Toth, der Mondgott, trug einen Ibiskopf; Anubis, der Totengott, hatte
einen Hundekopf. Oft wird auch der Tiercharakter der Gottheit durch ihr Reittier betont, während sie selbst eine menschliche Gestalt hat. Der alte indische Gott Schiwa, der einst als Stier dargestellt wurde, reitet jetzt in Menschengestalt auf einem rotbraunen Bullen. Er ist es, der als Sonnengott die Rinderherde des Lichts aus dem Stalle der Nacht herausführt.

Auch der Tanz ist als älteste Form der Religionsübung von manchen Hochkulturreligionen als Vorrecht der Götter in ihr Ritual aufgenommen worden. Alle mexikanischen Götter tanzten — sie wurden mit Schellen an ihren Füßen und in steter Begleitung von Musikanten dargestellt.

Die enge Verwandtschaft des Gebets — besonders seiner festliegenden, formelartigen Abart — mit den alten Zauberformeln, ist offensichtlich. Im tibetanischen Lamaismus hat der Glaube an die magische Wiederholung gewisser heiliger Sätze zur Einführung regelrechter Gebetsmühlen geführt, mit deren Hilfe die heilige Formel des Om mani padme hum zum Segen der Gläubigen mechanisiert wird. Das interessante Charakteristikum solcher Gebetsformeln ist die Tatsache, daß die heiligen Worte selbst in keinerlei Beziehung zu den Wünschen des Beters stehen, der glaubt, daß der Gebrauch der Formel als solcher genügt, um die Aufmerksamkeit des Gottes auf den Betenden zu lenken, und daß der Gott dann automatisch die Bitten des Gläubigen erfüllen wird. Die tibetanischen Gebetsmühlen enthalten Papierstreifen mit den aufgeschriebenen heiligen Worten. Wird die Kurbel der Mühle gedreht, so gilt das Gebet als gesprochen und wird auf diese Weise Tausende von Malen wiederholt. Dieses Gerät entspricht etwa der primitiven Zauberrassel und ist mit dem ebenso alten zauberischen Singsang kombiniert. Die Gebetsmühlen können riesige Ausmaße erreichen. In Japan sind manche so groß, daß sie nur von einer Gruppe von „Betern" bewegt werden können. Andere werden mit Wind- oder Wasserkraft gedreht.

Gleich alt sind die spontanen Gebete, die einen besonderen Wunsch an die Gottheit ausdrücken. Oft werden sie durch Opfergaben an die Himmlischen „verstärkt", deren freundliche Zuneigung mit Hilfe des Geschenks erkauft wird. Die älteste Vorstellung der Gottheit ist die eines unberechenbaren mächtigen Wesens, dessen Gunst der Gläubige durch Gaben, Opfer und Gelübde erlangen kann. Die Vernachlässigung dieser Pflichten führt die Rache der Götter herbei. So ist es denn die Aufgabe des Menschen, selbst für die Aufrechterhaltung freundlicher Beziehungen zwischen der sichtbaren Welt der Sterblichen und der unsichtbaren der Götter zu sorgen. Ethischere Vorstellungen in unserem Sinne treten in den Religionen erst dort auf, wo eine sittliche Lebensführung und gewisse sittliche Grundsätze von dem Gläubigen verlangt werden.

Bei den verschiedenen Paradiesen der Menschheit ist der Baum der Erkenntnis derselbe — nur seine Früchte sind von unterschiedlicher Beschaffenheit. Die Begriffe von „Gut" und „Böse" sind keine absoluten Werte — sie sind in den einzelnen Kulturen mancherlei Varianten unterworfen. Die „Erkenntnis" jedoch ist insofern beständig, als sie je nach dem Kulturniveau des betreffenden Volkes oder Stammes genau feststellt, welche Handlungen als „gut" und welche als „böse" anzusehen sind. Der jeweilige Gott oder die Götter wachen streng darüber, daß der geltende Moralkodex eingehalten wird. Die Art dieser Moral jedoch ist bei den Stämmen und Völkern der Erde verschieden und in ihrer Stabilität der kulturellen und historischen Entwicklung unterworfen.

Jüngere Kulturen haben den Einfluß der Gottheit bis über den Tod hinaus ausgedehnt. Das ethische Verhalten des Individuums während seiner Lebenszeit wird zum Maßstab späteren Lohns oder späterer Strafe im Jenseits gemacht. Ein wesentliches Element jedoch übertrifft selbst den Glauben an die Gerechtigkeit und Rachsucht der Götter: die von der christlichen Religion eingeführte Idee von der vergebenden Liebe.

Der Mensch hat sich seine Götter nach seinem eigenen Ebenbild erschaffen. Sie besitzen die Wünsche und Leidenschaften der Menschen, sind aber darüber hinaus mit Kräften begabt, die die der Sterblichen übertreffen. Genau wie in den großen Weltreligionen ist die religiöse Überzeugung auch der Naturvölker auf dem Glauben begründet. Dieser Glaube führte zu der Annahme, daß die Götter den Menschen geschaffen haben.

In der heutigen Welt haben die Lehren der Missionare oft den Glauben an die alten Götter und ihre Zauberkräfte beeinflußt oder verdrängt, aber auch selbst dann sind nur diejenigen Elemente des Christentums akzeptiert worden, die zu der traditionellen Weltanschauung des jeweiligen Stammes paßten. So haben etwa die Bemühungen der christlichen Missionare hinsichtlich der „Bekehrung" der süd- und mittelamerikanischen Indianerstämme nur zu einer primitiv-christlichen Mischreligion geführt, und während der Semana Santa oder Heiligen Woche wird ein seltsames Passionsspiel aufgeführt, dessen Held nicht etwa Christus, sondern Judas ist. In Südamerika stehen die meisten Kirchen an den Plätzen früherer Tempel, aber oft beherbergt selbst der christliche Altar noch die Bilder der alten Götter. So ist zum Beispiel über dem Hauptportal der Kirche von La Paz, meines Wissens bisher unbeachtet, ein vom indianischen Steinmetz ausgehauener indianischer Gott dargestellt. Ähnlich verhält es sich zum Beispiel mit der Konzeption der Madonna in der mohammedanischen Welt — sie ist den patriarchalisch organisierten Muslimen vollkommen unverständlich. Im modernen Algier finden noch heute mehr Übertritte von Christen zur mohammedanischen Religion statt als umgekehrt, denn es ist eben die Religion Mohammeds, die sich den wirtschaftlichen und geistigen Gegebenheiten des Landes am besten anpaßt.

Von den Naturvölkern sind nur solche Glaubensbekenntnisse und Götter übernommen worden, deren geistige Bedeutung bereits einen Teil ihrer traditionellen Überzeugungen enthält, denn es war der Mensch, der sich seine Götter schuf.

 

Quelle: VVV Volk und Buch Verlag Leipzig 1951, Vom Ursprung der Dinge; © by sykr jadu 2003